Mit der Einführung von ChatGPT und anderen Sprachmodellen entsteht schnell der Eindruck, dass KI sich nur auf einzelne Anwendungen beschränkt. Doch gerade in der Medizin sieht die Realität ganz anders aus: KI wird bereits in vielfältigen Formen in der medizinischen Praxis angewendet – von Diagnosetools bis hin zu intelligenten Therapievorschlägen. Doch wie weit geht es konkret? Das Online Netzwerk Medscape führte eine Online-Umfrage unter Ärzten durch, die deren Einstellung zu KI im ärztlichen Alltag abfragte. Wir sprachen mit Claudia Gottschling, Chefredakteurin von Medscape Deutschland, über die Ergebnisse.
Frau Gottschling, seit dem Release von ChatGPT verwechseln viele Menschen KI mit diesem einzelnen LLM. Nehmen Sie uns doch mit in eine Klinik: Welche Einsatzgebiete hat KI in der Medizin derzeit schon und welche stehen ultimativ bevor?
Es gibt inzwischen unzählige Anwendungsgebiete in der Medizin. Jede Woche werden neue Studien publiziert, die den Einsatz in der Therapie und vor allem in der Diagnostik beschreiben. Software-Firmen entwickeln eigene LLM für die jeweiligen Anwendungen in der Medizin. Auf Kongressen aller Fachrichtungen werden inzwischen eigene Sessions zu den Innovationen angeboten. In einem unserer Artikel auf Medscape zitieren wir eine Liste des britischen National Institute for Health and Care Research (NIHR). Der Bericht identifizierte 10 vielversprechende KI-gestützte Innovationen. Dazu zählen:
- ein intelligentes Stethoskop zur Erkennung von Herzinsuffizienz,
- Bestätigung eines Myokardinfarkts bei Patientinnen und Patienten in der Notaufnahme,
- Diagnose von Lungenkrebs auf CT-Scans,
- Vorhersage der Progression bei feuchter altersbedingter Makuladegeneration,
- Personalisierung von Krebstherapeutika,
- Unterstützung von Krankenhausmanagern bei der Vorhersage des Bedarfs an Notfallbetten.
Gibt es ein besonders prägnantes Erfolgsbeispiel?
Alle Bereiche in der Medizin, die eng mit Bildgebung verknüpft sind – etwa die Radiologie (bei der Mammographie), aber auch die Dermatologie (bei der Melanom-Diagnostik) – gehören zu den Vorreitern. Dort sind Forscher schon seit einigen Jahren dabei, sich von KI-Tools bei der Auswertung helfen zu lassen und erste Studien zeigen, dass eine KI bisweilen besser befundet als ein Radiologe.
Laut Ihrer Studie lehnen 58% der Befragten KI bei den direkten ärztlichen Tätigkeiten ab. Inwiefern hängt diese Zahl vom Ego der Befragten ab und nicht von sinnvollen Einsatzmöglichkeiten?
Zum Ego der Befragten habe ich keine näheren Informationen. Aber man muss natürlich einerseits hoffen, dass die meisten Ärzte neugierig und experimentierfreudig sind, aber gleichzeitig brauchen sie sicher auch Zeit, sich an die neuen Optionen zu gewöhnen und eigene Erfahrungen in kleinen Schritten zu sammeln.
Auch Ärzte machen Fehler. Sehen sie sich als Konkurrenz zu KI und befürchten, dass ihre Arbeit ein Stück weit an Wert verliert oder eine Kontrollinstanz eingeführt wird?
Diese Sorgen machen sich anscheinend nur wenige, wie unsere Umfrage zeigt. Sie sehen eher eine Chance darin, einen digitalen Assistenten zu bekommen.
Müssen Ärzte jetzt auch noch IT-Expert:innen werden?
Ein bisschen muss man das doch inzwischen immer, oder? In jedem Beruf schreiten die Veränderungen rasant voran und man muss für neue Arbeitsweisen offenbleiben.
Unterstützung bei der Diagnostik ist eine Sache, Therapie eine ganz andere. Welche Rolle könnte KI hier übernehmen?
In der Onkologie beispielsweise hofft man sehr auf baldige Erkenntnisse aus KI-Programmen, die genauer eingrenzen können, welche Patienten von welcher Kombinationstherapie am meisten profitieren. Das würde vielen Krebskranken unnötige Nebenwirkungen ersparen, wenn sie die Medikamente nicht nehmen müssen, die bei ihrem speziellen Tumortyp keine großen Heilungsaussichten versprechen.
Wo hat KI ihre Grenzen – gerade beim Patientenkontakt könnte KI doch etwa Sprachbarrieren gut abbauen?
Viele Ärzte, die an unserer Umfrage teilgenommen haben, lehnen den Einsatz von KI in direktem Patientenkontakt ab. Aber vielleicht haben sie da nicht an die Übersetzungshilfen gedacht. Auf dem Oktoberfest in München haben die Ärzte und Sanitäter jedenfalls solche Programme dieses Jahr eingesetzt, um sich mit den verletzten Betrunkenen aus dem Ausland zu verständigen.
Welcher Player im Markt der Gesundheits-IT sucht demnächst welche Jobprofile auf Ebene der Hochschulabsolvent:innen?
Ich bin nicht so bewandert, was einzelne IT-Firmen angeht. Aber die Hochschulen in Deutschland rüsten alle auf und eröffnen Lehrstühle, die sich in den jeweiligen Fachgebieten mit KI befassen. Diese kooperieren häufig auch eng mit Start-ups und bauen ihre Abteilungen erst aus. Ich habe kürzlich auf dem Europäischen Krebskongress (ESMO) in Barcelona einen spannenden Vortrag zum Beispiel von Prof. Jakob N. Kanther von der Technischen Universität Dresden gehört, wie KI die Onkologie verändern wird. Tausende Teilnehmer saßen da im Auditorium und nach dem Vortrag scharten sich junge Ärzte auf Jobsuche um ihn, weil sie auf den KI-Zug mit aufspringen wollten.
Über den Medscape Report 2024: „Künstliche Intelligenz in der Medizin – Fluch oder Segen?“
Für den aktuellen Medscape-Report „Kann die KI die Medizin verbessern? Wie Ärzte in die Zukunft blicken“ wurden Ärzte und Ärztinnen, die in Deutschland leben und arbeiten, eingeladen, an einer Online-Umfrage bei Medscape und Univadis teilzunehmen und einen Fragebogen auszufüllen. Die Umfrage fand von Anfang Januar bis Anfang Mai 2024 statt. Insgesamt haben in diesem Zeitraum 1.010 Ärztinnen und Ärzte den Fragebogen zu neun verschiedenen Themengruppen ausgefüllt. 63 % der Teilnehmer war dabei Männer und 37 % Frauen. Die Mehrzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren über 45 Jahre alt.
Bei den Umfrageergebnissen ist zu beachten, dass die Sample-Größe nicht repräsentativ ist und sich die Ergebnisse auch nicht auf die Allgemeinbevölkerung übertragen lassen. Die Standardabweichung beträgt 3,26% bei einem Konfidenzintervall von 95% unter der Verwendung einer Punktschätzung von +- 50%. In den Fällen, in denen die Summe der Prozentpunkte 100% übersteigt, waren mehrere Antworten möglich oder es wurde gerundet.
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