Vom stationären Handel ging die Reise zum E-Commerce – nun stehen Mobile Commerce und andere Technologie-Trends im Handel auf der Tagesordnung. Warum Technologien wie 5G nur eine unterstützende Rolle spielen werden und Voice Commerce dagegen erhebliches Potenzial besitzt, erklärt Prof. Dr. Richard Geibel im Gespräch.
Prof. Geibel, der Handel ist eines der ältesten Gewerbe und hat sich enorm entwickelt. Auf den E-Commerce bezogen: Woraus ergeben sich Impulse zur Weiterentwicklung?
Der bisherige Bereich des Electronic Commerce wird mittlerweile eher Digital Commerce genannt, da er durch die Digitalisierung sehr stark geprägt wird. Dieser bietet mit seinen zunehmenden Funktionalitäten immer größere Gestaltungsoptionen. Insofern sollten die Anbieter diese Kanäle zügig ausbauen und in ihrem Leistungsumfang erweitern. Insbesondere während der Pandemie wuchs der Bereich des Digital Commerce mit den digitalen Bestell- und Absatzwegen erheblich.
Welche Herausforderungen ergeben sich derzeit aus solchen Impulsen?
Neben dem Digital Commerce steigt auch der Mobile Commerce stetig an. Dieser M-Commerce betrifft die Smartphones und Tablets, die man beispielsweise für Bestellungen abends auf dem Sofa nutzt. Entsprechend wichtig ist es, dass die Anwendungen für den Bereich E- und M-Commerce auf allen Endgeräten lauffähig sind. Ältere Anwendungen müssen durch leistungsfähigere und neuere ersetzt werden, die sich immer an das Endgerät anpassen. Insgesamt sprechen wir hier von einer Omni-Channel-Architektur; das heißt, dass alle Vertriebskanäle miteinander verbunden werden und sich gegenseitig ergänzen.
Gibt es bei klassischen, stationären Retail-Unternehmen eigentlich noch wirklichen Bedarf an Absolvent:innen?
Man könnte sich tatsächlich fragen, ob es bei klassischen, stationären Retail-Unternehmen noch einen Bedarf an Digital Talents gibt – schließlich denkt man dabei zunächst an angestaubte Jobs wie die des Storemanagers. Die Wahrheit ist: Der Bedarf an Absolvent:innen mit Digital Know-how ist erheblich! E-Commerce wächst rasant, aber es wäre ein Fehler, dabei nur an Player wie Zalando zu denken. Denn ein großes Wachstumsfeld liegt bspw. im Segment des Lebensmitteleinzelhandels. Bei Aldi, Lidl oder Edeka sprechen wir von Milliardenunternehmen, welche zunehmend entdecken, dass sie im Bereich des Omni-Channel-Vertriebs enorme Potenziale heben können. Wenn alle Kanäle des Händlers miteinander vernetzt sind, kann dieser seinen Kunden nicht nur ein nahtloses Kundenerlebnis bieten, sondern auch wertvolle Daten sammeln, aus denen Rückschlüsse für zukünftiges Kaufverhalten gezogen werden kann.
Eine zufriedenstellende Customer Journey bedingt es, Prozesse über die unterschiedlichen Kanäle konsistent zu vernetzen – und genau dafür brauchen auch die klassischen, stationären Händler – wie etwa aus dem Lebensmitteleinzelhandel – dringend Digital Talents, welche die notwendigen Schritte für eine erfolgreiche Omnichannel-Strategie entwickeln und über alle Customer Touch Points umsetzen.
In welchen Bereichen brauchen E-Commerce Unternehmen Digital Talents?
Neben den genannten Themen spielen Social Media und damit Digital Marketing eine große Rolle. Man kann also sagen, dass alle Bereiche im E- und M-Commerce wachsen und eine stetige Nachfrage nach Digital Talents herrscht: Von Vertrieb und Marketing bis in die technischen Disziplinen der Anwendungsentwicklungen, der Integration neuer Technologien, aber vor allen Dingen bis zum Projektmanagement. Gerade hier wir ein professioneller Umgang mit den Kunden sowie Verständnis für dessen Anforderungen und Branche benötigt.
Bei digitalem Marketing und Social Media denkt man schnell an wild angepriesene Rabattcodes für Influencer:innen.
Die Arbeit mit Influencer:innen ist durchaus relevant, was einer der Treiber ist, dass hier auch viele Entwicklungen stattfinden. Früher mussten die Konsumenten von der Social Media Anwendung auf die jeweilige Webseite des Shops gehen, den Artikel heraussuchen, in den Warenkorb legen, die Bezahlmöglichkeit auswählen und bestellen. Das hatte zwei Nachteile: Die Influencer:innen haben über diese lange Strecke Follower:innen und die Medienkanäle für diesen Zeitraum ihre User:innen verloren. Im Digital Marketing geht es unter anderem um die „stickiness“ einer Webseite, denn man versucht immer, Kunden so lange wie möglich auf der eigenen Webseite zu halten.
Und hier kommt ein ganz neues Gebiet zum Vorschein, welches wir im E-Commerce-Institut Köln erforscht haben – der „Social Commerce“: die Integration der E-Commerce Funktionalitäten in die Social Media-Seiten, insbesondere die Bereiche Payment und Fulfillment. Diese Entwicklung wird sich schnell etablieren. In China ist es jetzt schon häufig der Fall – vor allem über TikTok –, dass die User:innen die Ware dort direkt bestellen können. Damit können die Social Media-Seiten nicht nur ihr Geschäftsmodell erweitern, sondern auch die Influencer, die dann nicht nur über die Anzahl der Follower:innen bezahlt werden, sondern zusätzlich über Affiliate Marketing.
Augmented Reality wird gerne als technologische Herausforderung genannt, erfordert bis dato aber Investitionen seitens der Konsumenten, beispielsweise die Brille. Im Gegenzug dazu steht Voice Commerce, weil die meisten internetfähigen Endgeräte bereits ein Mikrofon haben. Wie schätzen Sie Voice Commerce ein?
Wir unterscheiden hier die sogenannte Virtual Reality, für die die angesprochene Brille nötig ist, daher eignet sich VR eher für Spezialanwendungen. Augmented Reality finden wir jetzt schon im Handel: Beispielsweise in Form von QR-Codes im Aldi-Prospekt, über die man durch das Scannen auf eine Webseite gelangt, auf der man entweder das Produkt bestellen kann oder Hintergrundinformationen angezeigt bekommt. Das können beispielsweise Informationen über Lieferketten sein oder auch technische Anleitungen.
Darüber hinaus gibt es den neuen Bereich Voice-Commerce. Das Grundprinzip kennen wir schon durch Apple mit Siri, Amazons Alexa oder Hey Google. Zuhause oder auch im Auto hat das jetzt schon einen enormen Stellenwert bekommen, wobei das die erste Stufe des Voice Commerce (VC) ist. Ich sehe vor allem den mobilen Commerce als Einsatzmöglichkeit für VC, zumal die Schnittstellen schon vorhanden wären. Gerade hierfür müssen aktuelle Anwendungen überarbeitet oder neu aufgestellt werden.
Prof. Dr. Richard Geibel ist Institutsleiter des wissenschaftlichen „E-Commerce Institut Köln“ (https://ecommerceinstitut.de) und lehrt Digital Management sowie Entrepreneurship an der Hochschule Fresenius in Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der digitalen Transformation, des E-Commerce und des digitalen Marketings. Als Alumnus des MIT, Cambrigde, Mass., USA, arbeitet er regelmäßig mit Forschern der „Sloan School of Management“ zusammen.
KI wird ebenso oft als Trend im Onlinehandel genannt, um Nutzer:innen genau die Produkte zu empfehlen, die zu ihnen passen. Aber sorgt das nicht dafür, dass User nichts Neues entdecken, sondern innerhalb einer Data-Bubble konsumieren?
Die Daten, mit der die KI unterfüttert wird, sollen für eine zielgruppengerechte Ansprache sorgen – und der Werbung damit das nehmen, was bisweilen als nervig empfunden wird. Je besser die zugrunde liegenden Daten sind, umso besser arbeitet die KI. Es geht nicht lediglich darum, so viele Daten wie möglich zu nutzen, sondern sie zu spezifizieren, damit sie überhaupt aussagekräftig werden. Hierin liegt der große Unterschied zwischen dem klassischen Marketing – Fernsehen, Radio und Außenwerbung -, bei dem man nicht genau weiß, wie die Zielgruppe aussieht, und dem Digital Marketing. KI kann beispielsweise datenbasiert einschätzen, in welchem Lebensbereich und welcher Lebenssituation Kund:innen gerade sind und entsprechend wirklich passende Produkte vorschlagen.
Welche Rolle kann Mobilfunktechnologie wie 5G spielen?
Zunächst einmal ist 5G nur ein schnelleres Übertragungsprotokoll. Für Branchen wie die Mobilität ist es essenziell, für den Handel nicht direkt. Die indirekte Bedeutung ergibt sich aus der größeren Bandbreite, was bedeutet, dass man beispielsweise mehr Videos einspielen und allgemein mehr Daten zur Verfügung stellen kann. Man kann den Nutzer also bewusster spezifizieren und dann ein Angebot bereitstellen, das durch die zugrundeliegende Infrastruktur leistungsfähiger wird.
IT und deren Vertreter:innen werden bisweilen zu binär denkenden, rein prozessorientierten „Techies“ stilisiert. Hat der E-Commerce eine gesellschaftliche Verantwortung?
Ja, während der Pandemie hat der Bereich des E-Commerce sogar erheblich an Bedeutung gewonnen. Mit diesem hohen Wachstumspotenzial geht eine enorme Verantwortung einher: beispielsweise Ehrlichkeit, angemessene Bewerbung, aber auch das Vermeiden von Fake News sowie natürlich eine ethisch wertvolle und gesellschaftlich gewollte Handlungsweise. Häufig sind die Verbraucher auch bereit, mehr auszugeben, wenn sie etwa Kinderarbeit oder Ausbeutung vermeiden können. Das muss aber auch klar und deutlich gegenüber dem Verbraucher kommuniziert werden.
Gibt es Arbeitgeber, die Sie unseren Leser:innen empfehlen würden?
Da gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Branchen. Zum einen die großen Anbieter, welche oftmals ihre eigenen digitalen Spezialisten haben (bspw. Rewe und Rewe-Digital). Zum anderen gibt es Agenturen, die sich mit Themen wie Marketingaktivitäten oder die Customer Journey beschäftigen. Darüber hinaus wächst mit der Bedeutung des E-Commerce auch die Zahl der Anwender-Unternehmen. Generell kommt es bei der Arbeitgeberwahl darauf an, welche Skills man selbst mitbringt und in welche Berufsgruppe man hineinschauen und sich entwickeln möchte. Insgesamt bietet der wachsende Bereich des E-Commerce sehr viele Chance und hervorragende Möglichkeiten.
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