Vom Grundprinzip her längst bekannt, gab es im Sommer 2019 eine signifikante Innovation, die AR-Brillen aus der seltenen in die breite Verfügbarkeit katapultieren könnte. Berthold Lange, Produktmanager Augmented Reality beim Glashersteller SCHOTT, erläutert die Hintergründe des sogenannten High-Index Glaswafers, der gegenwärtig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.
Herr Lange, der Aufhänger für unser Gespräch ist die Aussage, dass AR-Brillen nun deutlich günstiger herzustellen wären und damit in greifbare Reichweite von Endkonsumenten gerückt sind. Inwiefern hat Schott hierzu beigetragen?
SCHOTT liefert als Spezialglashersteller ein wichtiges Bauteil für moderne AR-Brillen, nämlich den sogenannten High-Index Glaswafer, SCHOTT RealView™. Dieses in seinen Material- und geometrischen Eigenschaften einzigartige Substrat ist das Ausgangsmaterial für die Entwicklung des ‚Waveguides‘ – einem Lichtwellenleiter, der das digitale Bild des Mikroprojektors aufnimmt und über den Auskopplungsbereich zum Auge führt. Somit kombiniert der Waveguide das digitale Bild mit dem Bild der realen Umwelt. Die ausgefeilte Elektronik in Verbindung mit der Projektionseinheit kann nur dank der Komponente von SCHOTT so gut funktionieren, dass AR-Brillen die digitale mit der realen Welt möglichst nahtlos miteinander verschmelzen lassen.
Besteht der Wafer weiterhin aus monokristallinem Silicium oder hat sich an der Zusammensetzung etwas geändert?
Nein, für diese Anwendung wäre ein Wafer aus Silizium nicht zielführend. Schließlich ist Silizium im sichtbaren Spektrum nicht transparent und folglich für die Anwendung als Brillenglas völlig ungeeignet. Deshalb produziert SCHOTT spezielle Wafer aus optischen Gläsern für die AR-Brillen.
Der Begriff „Wafer“ kommt tatsächlich historisch aus der Herstellung von Integrierten Schaltungen, da die Siliziumrundscheiben als „Wafer“ bezeichnet wurden. Die Wafer für AR-Brillen bestehen aus optischem Glas, das mit speziellen Beschichtungen und aufgedruckten Nanostrukturen, auch ‚Nanoimprints‘ genannt, später quasi zu einer Displayeinheit weiterentwickelt wird. Hier ist Glas die beste Wahl für die Leitung der Lichtwellen mit geringsten Verlusten, Verzerrungen und ungetrübtem Durchblick auf die Umgebung.
Wenn ich das richtig verstanden habe, handelt es sich um einen speziellen Wafer plus Foto-Lackierung mit Nanostrukturen. Das klingt nach einem interdisziplinären Zusammenspiel aus Chemie, Elektronik und Anlagenbau (zur Herstellung). Welchen fachlichen Hintergrund haben die Schott-Mitarbeiter, die an dieser Innovation gearbeitet haben?
Exakt so ist es. Gemeinsam mit unserem Partner EV Group, einem spezialisierten Maschinenhersteller im Bereich Nanolithografie, konnten wir unsere SCHOTT RealView™ Glaswafer mit dem Durchmesser von bis zu 300 Millimetern mit Nanoimprints versehen. Wir brachten dabei die Expertise in Sachen Glas ein und stellten die Wafer in 300 mm Durchmesser her, womit wir Pioniersarbeit geleistet haben – während EVG den Prozess für die Nanoimprints aufsetzte.
Der fachliche Hintergrund des SCHOTT Teams ist dabei sehr breit gefächert, da verschiedenste Experten an dieser Innovation gearbeitet haben. Chemiker, Physiker, Mathematiker, Prozessingenieure, aber auch Betriebswirte sind Teil des Entwicklungsteams.
Die Theorie der AR-Brillen weitergesponnen: Wie sieht es denn mit Endkunden aus, die bereits dicke Brillengläser tragen – kann das Glas hier überhaupt zum Einsatz kommen oder wäre das Ergebnis im wahrsten Sinne des Wortes untragbar?
Die Entwickler der AR-Brillen haben für die Korrektur der Sehschärfe unterschiedliche Konzepte entwickelt, die voneinander abweichende Ansätze verfolgen. Somit ist es auch Brillenträgern möglich, die AR-Systeme zu nutzen. Der Waveguide aus Glas bedeutet hier keine Einschränkung.
Einen Brillen-Prototyp haben wir übrigens nicht entwickelt: Wir arbeiten mit den Innovatoren der AR-Branche zusammen, die zum Teil bereits mit ihren AR-Brillen am Markt sind. Darüber hinaus sind wir im dauerhaften Austausch, um gemeinsam die Technologie für den noch jungen Markt zur Reife zu bringen. Unser Ziel ist es, mit den SCHOTT RealView™ Glaswafern die rasante Entwicklung zu befeuern.
Lässt sich die Technologie auf andere Dimensionen übertragen, wie bspw. den Automotive-Sektor?
Denkbar wäre das, ja. Beispielsweise könnte eine neue Generation von Head-up-Displays in bisher nicht gekannter Projektionsfläche mit dieser Technologie ermöglicht werden. Die Zukunft muss zeigen, wann der Automotive-Sektor hierfür bereit ist.
Die Zielgruppe geht sicherlich über Privatanwender hinaus, beispielsweise Handwerksbetriebe?
Die Zielgruppen für AR-Brillen sind quasi unendlich groß. Ob Handwerker, Logistiker, Wartungstechniker, Hebammen oder Ärzte – überall dort, wo digitale Informationen dabei helfen können, die tägliche Arbeit zu verbessern oder Fehler zu vermeiden, ist AR in Zukunft ganz sicher ein Thema. Ganz zu schweigen von den Privatleuten, die sich beispielsweise ganz einfach Zusatzinformationen zu betrachteten Dingen oder Navigationsdaten anzeigen lassen können. Solche Informationen können jederzeit bereitgestellt werden, ohne die Hände bei der Tätigkeit einzuschränken.
AR-Brillen „mischen“ sozusagen die künstliche Wahrnehmung mit der Realität. Wie gestaltet man diese Vermischung so, dass die Realität nicht untergeht und es zu ernsthaften Risiken kommt?
Das wird die Herausforderung für die App- und Softwareentwickler im Bereich AR sein. Was heute schon möglich ist, zeigen Endgeräte wie die MagicLeap One oder die HoloLens von Microsoft. Wir sind sehr gespannt darauf, wie sich die Branche weiterentwickelt und hoffen, an der Speerspitze der Innovation mitzumischen.
Interview von Bettina Riedel