Data Analytics ist ein Fachbereich, der mehr als nur IT-Expertise verlangt – und (Finanz-)Mathematiker sind dafür bestens ausgerüstet. Findet zumindest Prof. Francesca Biagini von der LMU und beleuchtet im Interview die Einstiegschancen für Mathe-Absolvent:innen in verschiedenen Branchen. Klar ist: Es gibt keinen Grund, sich zu verstecken.
Prof. Biagini, Hand aufs Herz – sind alle Mathematiker Geeks?
Ich hoffe nicht! (lacht)
Die Finanz- und Versicherungsmathematik ist an der Schnittstelle zwischen Mathematik und Wirtschaft angesiedelt. Welches Tätigkeitsfeld eröffnet sich Berufseinsteigern nach ihrem Abschluss auf diesem Gebiet?
Am Arbeitsmarkt beobachten wir eine starke und stets zunehmende Nachfrage nach hoch qualifizierten Fachkräften mit einem interdisziplinären Hintergrund mit Schwerpunkt Mathematik sowie soliden Kenntnissen in der Statistik, in den Wirtschaftswissenschaften und im IT-Bereich. Genau diese Ausrichtung versuchen wir in dem Studium der Finanz- und Versicherungsmathematik zu vereinen, sodass unseren Absolvent:innen zahlreiche Türen in der Berufswelt offenstehen.
Das Beschäftigungsfeld umfasst zum einen den „klassischen“ Bereich der Finanz- und Versicherungswirtschaft, also Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen. Zum anderen auch weniger offensichtliche Bereiche, wie beispielsweise alle Unternehmen, für die Risikosteuerung eine große Rolle spielt, etwa Unternehmen in der Auto- und Energieindustrie. Darüber hinaus vermitteln wir mit unserem Studium nicht nur Fachwissen, sondern auch Schlüsselqualifikationen wie Abstraktions- und Analysefähigkeit, Organisation komplexer Sachverhalte und EDV-Kenntnisse. Dies sind Kompetenzen, die von allen Unternehmen nachgefragt werden.
Die Digitalisierung verändert auch den Finanz- und Versicherungssektor rasant. Wird von einem Studienabsolventen in diesem Bereich in Zukunft nicht nur mathematische und wirtschaftliche Expertise, sondern auch zunehmend IT-Affinität gefordert?
Auf jeden Fall werden in der nahen Zukunft Absolventen in diesem Bereich immer mehr nach Kompetenzen in Data Science, maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz gefragt. Gleichzeitig müssen die Studierenden aber auch über solide mathematische Grundlage und interdisziplinäre Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Versicherungen und Statistik verfügen. Das ist höchst anspruchsvoll!
Um den heutigen und zukünftigen Herausforderungen im Bereich der quantitativen Finanz- und Versicherungswirtschaft gerecht zu werden, wurde der Masterstudiengang in Finanz- und Versicherungsmathematik 2019 neu gestaltet. Der bereits interdisziplinäre Charakter des ehemaligen Studiengangs wurde um die Bereiche Maschinelles Lernen und Data Science erweitert. Des Weiteren spielt das „quantlab“ (Laboratory for Quantitative Risk Control) eine Schlüsselrolle in diesem Programm. Dieses Computerlabor, das ausschließlich unseren Master-Studierenden gewidmet ist, bietet nicht nur den geeigneten Raum für Vorlesungen und Forschung in der angewandten computergestützten Finanzwirtschaft, sondern veranstaltet regelmäßig Spezialkurse und Workshops mit Industrieexperten. So bringen wir Theorie und Praxis innovativ zusammen, von dem sowohl die Unternehmen als auch die Studierenden profitieren. Mit diesem neuen Curriculum werden unsere Absolvent:innen optimal auf eine Karriere in der Finanz- und Versicherungsbranche sowie auf ein anschließendes Doktorandenprogramm vorbereitet.
Firmen suchen aktuell viele Data Analysts. Ist das wirklich ein Job für Informatiker oder doch eher für Mathematiker?
Idealerweise setzt sich ein Team von Data Analysts aus (Finanz-)Mathematiker:innen, Informatiker:innen und Statistiker:innen zusammen. Die Aufgabe von Data Analysts lässt sich grob in zwei Bereiche unterteilen:
Einerseits müssen aus den vorliegenden Daten Erkenntnisse und Informationen gewonnen werden. Dafür benötigt man Kompetenzen in statistischer Datenanalyse als auch in numerischer Umsetzung und Datenmanagement, wobei die angewandten Methoden auf mathematischen Grundlagen beruhen.
Andererseits muss eine aussagekräftige Interpretation, beziehungsweise Analysis der Daten, durchgeführt werden mit dem Zweck der Risikosteuerung oder finanzieller Prognose. Hierfür sind fundierte Kenntnisse in den Finanz- und Versicherungswissenschaften nötig. Auf jeden Fall werden daher Mathematiker beziehungsweise Finanzmathematiker auch in diesem Gebiet eine wichtige Rolle spielen!
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In welche Richtung verändert sich Risiko- und Katastrophenbewertung im Moment, welche Themen werden in den nächsten Jahren zunehmend wichtig?
Seit der letzten Finanzkrise im 2008 beschäftigt sich die Finanzmathematik mit systemischen Risiken, das heißt mit Risiken, die ein ganzes System betreffen und dem alle Marktteilnehmer ausgesetzt sind. Ursachen für solche Risiken können beispielsweise Änderungen im Zins, politische Vorkommnisse oder Naturkatastrophen sein. Untersucht wird nun, welche Konsequenzen unerwartete Schocks in einem System von Unternehmen für alle Beteiligten haben können, wie sich diese Effekte in einem System propagieren, mit welcher Geschwindigkeit und was passiert, wenn die Anzahl an betroffenen Marktteilnehmer sehr groß wird („situation at the limit“).
Unter anderem ist demnächst zu erwarten, dass die Evaluierung von systemischen Risiken nicht nur für Banken eine fundamentale Rolle spielen wird, sondern auch für Versicherungsunternehmen, unter anderem in der Berechnung von Policen. In diesem Fall könnte es interessant sein, mathematisch (und numerisch) zu untersuchen, welche neuen Versicherungsprodukte nötig wären, um sich gegen systemische katastrophale Risiken abzusichern.
Sie haben sich gegen eine Karriere in der Wirtschaft entschieden und sind an der Universität geblieben. Was macht für Sie den besonderen Reiz der Forschung auf diesem Gebiet aus und mit welchem Thema beschäftigen Sie sich gerade?
Bereits als Kind wollte ich mich der mathematischen Forschung widmen, das ist eine meiner großen Lieben! Insbesondere mag ich die ständige intellektuelle Herausforderung, sich immer neue Fragestellungen zu erschließen und anspruchsvolle Ergebnisse zu beweisen. Zudem findet die Forschung in der Finanzmathematik auch eine Anwendung in der Praxis. Aktuell beschäftige ich mich mit mathematischen Modellen für „Spekulative Blasen“ und Modellrisiko im Versicherungswesen.
Sie sind nicht nur Professorin, sondern auch Vizepräsidentin und Mutter. Wo sehen Sie Baustellen, um Arbeit und Familienleben besser miteinander lebbar zu machen?
Ja, ich habe das dreifache Glück die Herausforderungen von Familie, Karriere und Engagement meistern zu dürfen (lächelt). Allerdings fällt es nicht immer leicht, die Ansprüche des Berufs mit den Ansprüchen der Familie zu vereinbaren. Es ist ein typischer Organisationsspagat. Kinderbetreuung und Flexibilität in der Arbeitsorganisation sind aus meiner Sicht fundamental für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Denn Kinder großzuziehen und gleichzeitig eine ehrgeizige Karriere zu verfolgen, das ist nicht leicht. Dazu benötigt man Rückendeckung – nicht nur privat, sondern auch durch den Arbeitgeber. Deshalb setze ich mich als Vizepräsidentin der LMU dafür ein, Familien bestmöglich dabei zu unterstützen, Karriere und Privatleben flexibel in Einklang zu bringen. Die Potentiale von Frauen und Männer gleichermaßen zu nutzen und dabei Familie und Beruf zu ermöglichen, das ist das Ziel.