Kaum eine Branche ist so umtriebig wie der Handel. Doch egal, in welche Richtung er sich entwickelt, das Grundprinzip bleibt gleich: Ein Unternehmen möchte seine Waren verkaufen. Spannend ist: Gerade in letzter Zeit entwickeln sich neue Absatzkanäle, mischen sich neue Player in den Markt ein und ohne IT lässt sich keine erfolgsversprechende Strategie mehr entwickeln. Ein kurzer Branchenrundgang.
Es ist ein typischer Samstagmorgen: Nach dem Gang zum Bäcker wirft man einen Blick in den Briefkasten, der allmählich zu einem lost place oder Relikt verwaist. Doch eine Wurfsendung hält sich hartnäckig und wird gerne, trotz des ‚keine Werbung‘-Aufklebers, verteilt:
Die Sammlung der Einzelhandelsprospekte mit den Angeboten der kommenden Woche. In einer digitalisierten Welt muten die Prospekte deutlich altbacken an – unterstreichen aber den Werbedruck, unter dem der Handel steht. Was Werbung im Handel mit der dahinter liegenden IT zu tun hat?
Eine Umfrage des EHI Retail Instituts bestätigt den hohen Werbedruck – die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen behält die Werbebudgets für 2020 auf diesem Level bei, rund 39 Prozent steigern sie noch. Kostenfaktor / -treiber sei das Targeting, also die Ansprache spezieller Zielgruppen. Anstatt sämtliche Haushalte mit Wurfblättern zu versorgen, solle digital mehr ausgeschöpft werden. Algorithmen, Cookies & Co werden in die Verantwortung genommen, das richtige Produkt bei der exakt richtigen Person auszuspielen. Eine Entwicklung, die noch lange nicht abschließend durchlaufen ist und in den nächsten Jahren viel Raum einnehmen wird: Influencer beispielsweise sind shiny, aber dennoch Massenkommunikation und längst in der Kritik.
Instagram reagierte: Die Plattform bietet die Möglichkeit, in einem simplen Bilderpost Produkte zu markieren, die man sich in erster Instanz auf Instagram anschaut. Anschließend wird man in den Shop des Anbieters weitergeleitet. In dessen Profil gibt es einen zusätzlichen Reiter, unter dem Produkte aufgelistet werden – verkauft aber wird immer über den eigenen Shop. Ähnlich experimentiert zur Zeit TikTok, noch in anderen Ländern. Auf diese Weise liegt die Verantwortung des Targeting beim Anbieter, der sich selbst Reichweite aufbauen muss.
Perfektes Targeting braucht im Hintergrund die ebenso perfekte IT
Anders sieht es aus, wenn solche Shoppable Posts als Anzeige geschaltet werden: Damit die perfekte Werbung an die richtigen Adressaten kommt, braucht es im Hintergrund die ebenso perfekte IT. Die Programmierer werden nicht nur an der Technik zu knabbern haben, sondern sich auch mit entscheidenden Rahmenfaktoren auseinandersetzen müssen, die laufend neue Anforderungen an die zu entwickelnden Algorithmen stellen. Wenn beispielsweise der EuGH wieder am Cookie-Gesetz schraubt: Tracking Cookies dürfen nur noch mit ausdrücklicher, informierter, nachweisbarer und widerrufbarer Einwilligung gesetzt werden. Eine Aussage, die das Onlinemarketing und damit die Arbeit von Data Scientists massiv verändern könnte, weil sie die Datenerhebung und -verarbeitung auf den Kopf stellen würde. Beziehungsweise ihnen potenziell die Basis der Arbeit komplett entziehen könnte, wenn die User keine Tracking-Cookies mehr zulassen. Das betrifft auch Google Analytics – dies dürfte aber eher die Marketeers und nicht die Informatiker interessieren. Google jedoch hat ein extrem starkes Eigeninteresse daran, sein Produkt nicht vom Markt verschwinden zu lassen und wird entsprechend eine technische Lösung präsentieren. Das Thema „IT und Handel“ ist also eines, das sich immer stärker ausbreitet und längst nicht nur beim stationären Laden „um die Ecke im Keller“ stattfindet. Damit hat die IT längst das Image des Erfüllungsgehilfen abgelegt und gibt die Basis für ganze Geschäftsmodelle vor, auch wenn das Start-up kein klassisches IT-Unternehmen werden soll.
Wenn eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andere: Die Drogeriekette Rossmann hatte lange keinen Onlinemarkt, da der Profit in Frage gestellt wurde – wenn Shampoos und viele weitere Drogerieprodukte unter 1 bis 2 Euro kosten, ließe sich mit dem Aufwand des Shops keine vernünftige Marge erwirtschaften. Eine klare Absage an eine Omnichannel-Strategie oder in diesem speziellen Fall an unvernünftige digitale Geschäftsmodelle? Das Unternehmen PicNic bricht dieses Gedankenkonstrukt auf: Das Start-up bündelt die wöchentlichen Angebote der bekannten Discounter und bietet diese den Nutzern per App zu genau diesen Angebotspreisen zur Lieferung an.
Das Konzept, so unwahrscheinlich es klingt, ist der absolute Renner: Neukunden tragen sich in Wartelisten ein, um den Einkaufsservice zu nutzen. Erst, wenn statistisch genügend Kunden in einem Gebiet angemeldet sind, wird dieses für Lieferungen freigeschaltet. Die Lieferrouten basieren auf einem klassischen Navigations-Algorithmus, der zu beliefernde Punkte optimal miteinander verknüpft. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht aber, den Kunden in spe glücklich zu machen: Je länger die Wartezeit, umso mehr Goodies erhält er/sie für seinen ersten Einkauf. Beispielsweise die erste Trostbanane nach ein paar Tagen, wenn das Gebiet nicht schnell genug freigeschaltet werden kann. Damit ist PicNic ein exzellentes Beispiel dafür, wie IT und BWL ineinander greifen müssen: Prozesskenntnisse aus dem betriebswirtschaftlichen Umfeld und der IT kommen nicht ohne einander aus.
Ähnlich sieht es bei dm aus: Über 400.000 Kunden besuchen täglich dm.de – entsprechend solide muss der Support aufgebaut sein. So gibt es bei dm über 800 Stellen in der IT, hauptsächlich am Firmensitz in Karlsruhe. „Digital“ umfasst jedoch weit mehr als eine Website oder Shop: Kassensysteme müssen miteinander vernetzt sein, Filialen untereinander und mit der Zentrale.
Auch das Thema Nachhaltigkeit wird im Handel immer prominenter, vornehmlich bei Versendern wie Amazon, Otto und Co. Das medial verbreitete Bild der Retouren-Vernichtungsmaschinerie mag ökonomisch sinnvoll sein, hat aus ökologischer Sicht aber zu Recht zu einem Aufschrei geführt. Am Nutzerverhalten kann die IT nichts ändern? Nun, bei grundsätzlich verschwenderisch vorgehenden Käufern vielleicht nicht. Man muss auch nicht das Rad neu erfinden, sondern kann bestehende Prozesse neu routen: In München läuft bei dm derzeit noch ein Pilot-Projekt namens ‚Marktabholung Express‘, bei der Kunden eine Bestellung innerhalb von vier Stunden in einem Markt abholen können. Damit möchte die Drogerie-Kette ihren Nachhaltigkeitsansatz weiterverfolgen und Verpackungsmüll einsparen.
Im Handel gibt es jenseits der Regale spannende Entwicklungen
Ein weiteres Beispiel, wie durch die IT bereitgestellte Infrastrukturen auch nicht-technische Themen betreffen und betriebswirtschaftliche Prozesse verändern können. Viele Unternehmen aus der Handelsbranche erkennen diese Übereinstimmung und auch innerhalb ganzer Unternehmensgruppen lassen sich daraus Synergieeffekte ableiten. Die Schwarz Gruppe beispielsweise bündelt die IT-Abteilungen von Lidl und Kaufland und zentralisiert damit die IT-Dienstleistungen. Das ist keineswegs eine Absage an den Stellenwert der IT, denn die digitalen Berührungspunkte der Kunden sind am Ende immer die eigenen Kanäle des Händlers – ob nun Newsletter oder Websites.
„dm haben viele eher als Zahnpasta-Verkäufer im Kopf. Wir müssen uns aber mit unseren technologischen Entwicklungen nicht verstecken. Gerade im Handel gibt es sehr spannende Aufgaben jenseits der Regale“, meint Christian Harms, dm-Geschäftsführer für das Ressort Mitarbeiter.
Immer im Hinterkopf bei solchen Betrachtungen: Nicht alles kann auf jeden Händler zutreffen, denn die Produkte von Lidl, dem Musikhändler thomann und beispielsweise adidas unterscheiden sich natürlich massiv.
Diese Unterscheidung ist etwas, was im Übrigen Amazon ein wenig zum Verhängnis werden könnte: Es ist schön und gut, dass der Onlineriese ein unvergleichlich großes Angebot offeriert. Wenn es aber um Beratung geht, sind Kunden auf sich alleingestellt. Die Methode, sich im Fachhandel beraten zu lassen und dann online günstig einzukaufen, hat sich so gut wie erledigt. Zum einen verlangen beispielsweise Baumärkte mittlerweile Beratungsgebühren, wenn der potenzielle Kunde nur das stationäre Fachwissen abgreift, aber den Worten keine Taten folgen lassen möchte. Zum anderen müssen Händler, die über Amazon verkaufen, dem Onlineriesen eine entsprechende Marge abgeben. Insofern verkaufen Händler dort zumeist teurer als im eigenen Onlineshop. Kriegen Kunden das spitz, bekommt der Händler die Konsequenz des negativen Kauferlebnisses zu spüren: Fachhändler könnten sich von Amazon abwenden.
Daraus ergibt sich eine Stärkung der einzelnen Händler – und ohne „digital“ geht gar nichts mehr.
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