Diskriminierung findet oft unbewusst statt, doch gerade in Bewerbungsprozessen sollte sie keine Rolle spielen. Ob dies eine Einsatzmöglichkeit für KI ist, wie neurodivergente Menschen ungeeignete Bewerbungsprozesse umgehen können und was Unternehmen konkret anpassen sollten, beantwortet uns Sarah Harnett von Greenhouse.
Warum Inklusives Hiring noch nicht Realität ist
Einstellungsprozesse sollten seit jeher frei von Diskriminierung sein. Wo finden dennoch Biases ihren Weg ins Hiring?
Voreingenommenheit und der damit verbundene Wunsch, die Person oder Situation zu kategorisieren, ist erstmal etwas ganz Menschliches. Sie beruht auf unseren vorherigen Erfahrungen und hilft uns, komplexe Situationen zu verarbeiten und ermöglicht eine schnellere Bewertung sowie Entscheidungsfindung. Das ist in Gefahrensituationen entscheidend und überlebenswichtig, in den meisten Bereichen unseres Alltags allerdings nicht mehr notwendig.
Im Bewerbungsprozess ist das anders – oft schleichen sich unbewusst kognitive Verzerrungen ein. In der aktuellen EMEA HR Manager AI & Bias Umfrage gaben 55 Prozent der Befragten an, dass Bewerber:innen, die einen ähnlichen Hintergrund wie sie selbst haben, ihre Einstellungsentscheidungen beeinflussen könnten. Wir reden hier also eindeutig von einem Affinity Bias, der Stigmatisierung und Diskriminierung begünstigt.
Beim Hiring ist es wichtig, sich an konsistente, objektive Kriterien bei der Bewertung von Kandidat:innen zu halten. Das bedeutet, dass im Voraus genau festgelegt wird, welche Fähigkeiten und Eigenschaften für eine bestimmte Position gesucht werden. Dabei stellen wir zum Beispiel im Bewerbungsprozess einheitliche Fragen, die sich auf die notwendigen Kompetenzen konzentrieren, und sicherstellen, dass diese Fragen für alle Bewerber:innen fair sind.
Warum setzen Ihrer Meinung nach viele Unternehmen auf klassische Bewerbungen mit Anschreiben, Foto & Co.?
Viele Unternehmen setzen auf klassische Bewerbungen, weil diese Prozesse historisch gewachsen sind und als Standard in vielen Branchen gelten. Allerdings kann diese Art des Einstellungsprozesses – gerade für marginalisierte Personengruppen, die besonders von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen sind – problematisch sein.
Die Erkenntnisse unseres Candidate Experience Report 2024 zeigen, dass über 50 Prozent von Bewerber:innen Diskriminierung im Bewerbungsprozess erleben. Möchte sich eine dreifache Mutter auf eine Vollzeitstelle bewerben, liegt die Annahme nahe, dass sie zeitlich weniger flexibel agieren kann als eine alleinstehende bewerbende Person. Doch wer weiß denn schon, ob die Mutter nicht vielleicht bereits ein tolles Netzwerk mitbringt, welches ihr volle Rückendeckung gibt? Diskriminierung zieht sich durch alle Lebensbereiche und führt nicht nur angesichts des Fachkräftemangels zu einer Verschwendung wertvoller Ressourcen, sondern schadet auch der Vielfalt und dem Wachstum am Arbeitsplatz.
KI als Bias-freie Lösung?
Könnte nicht eine KI maximal vorurteilsfrei Bewerbungen beurteilen, sofern sie ohne Bias trainiert wurde?
Theoretisch ja, eine korrekt trainierte KI – basierend auf objektiven Kriterien wie Qualifikation und Fähigkeiten – könnte tatsächlich Vorurteile im Einstellungsprozess minimieren. In der Praxis ist es jedoch sehr schwer, eine KI vollständig bias-frei zu trainieren, da die Trainingsdaten oft aus realen Bewerbungsprozessen stammen und diese Daten Verzerrungen enthalten können.
In der Greenhouse Bewerberumfrage: KI, DEIB und die Zukunft der Einstellungen fanden wir heraus, dass etwa 40 Prozent der Personalverantwortlichen der Meinung sind, dass KI zu einer Voreingenommenheit gegenüber historisch unterrepräsentierten Gruppen führt. In dem Zuge gab über ein Drittel an, dass KI die falschen Entscheidungen in Bezug auf Bewerbende getroffen hat. Unternehmen sollten daher beim Einsatz von KI im Bewerbungsprozess sehr sorgfältig vorgehen. Das bedeutet, dass die Algorithmen regelmäßig überprüft und angepasst werden müssen und menschliche Kontrollmechanismen integriert werden sollten, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen der KI gerecht und inklusiv sind. Es ist auch wichtig, kontinuierlich Daten zu sammeln und zu analysieren, um etwaige Verzerrungen frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren.
How to: Neurodivergente Bewerber:innen
Was können Unternehmen beispielsweise für neurodivergente Menschen konkret verbessern?
Der Candidate Expectations Report 2024 von Cronofy zeigt, dass lange und ineffiziente Einstellungsprozesse neurodiverse Kandidat:innen besonders stark belasten. 56 Prozent gaben an, aus Rekrutierungsprozessen ausgestiegen zu sein, weil die Terminplanung zu lange dauerte. Wer besonders mit Ängsten und Nervosität kämpft, ist natürlich von einer langen Wartezeit bis zur finalen Entscheidung negativ betroffen. Was Unternehmen also tun können, ist, den Rekrutierungsprozess effizienter und flexibler zu gestalten, um den Bedürfnissen neurodiverser Menschen gerecht zu werden.
Jedoch bleibt die Frage offen, inwieweit neurodiverse Menschen, die bisher im Gesetzesentwurf des Bundesteilhabegesetzes nicht explizit berücksichtigt wurden, von diesen Änderungen tatsächlich profitieren. Trotz der Reformen gibt es weiterhin Kritik, dass das Gesetz an vielen Punkten hinter den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zurückbleibt und nicht alle Bedürfnisse neurodiverser Menschen vollständig abdeckt. Die geplante Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises (§ 99 SGB IX) wurde nicht umgesetzt, und es fehlt noch eine abschließende Verordnung, die diese Lücke schließen könnte. Wir verstehen um so mehr, dass diese Unklarheiten insbesondere für neurodiverse Menschen problematisch sein können, da sie weiterhin mit Rechtsunsicherheiten bezüglich ihrer Anspruchsberechtigung konfrontiert sind.
Wenn ich nun nicht den Standardprozessen entsprechen kann oder möchte – wie könnte man trotzdem mit fachlich interessanten Unternehmen zu meinen Bedingungen in Kontakt treten, ohne den Arbeitgeber zu verschrecken?
Das ist eine wichtige Frage! Zunächst sollte sich auf die relevanten Aspekte der Stelle konzentriert und persönliche Details, die nicht zur Position passen, vermieden werden. Wenn es nicht relevant für die Stelle ist, dann würde ich zum Beispiel nicht von Konzentrationsschwierigkeiten erzählen. Dafür würde ich sagen, dass ich gerne an einem ruhigen und leisen Ort arbeite, wo mich wenig von der Arbeit ablenken kann. Ein Home-Office-Job wäre also in diesem Fall ideal. Ein weiteres Beispiel wäre: Wenn ich sensibel auf Umgebungsgeräusche reagiere, könnte ein Büro mit einer Noice Policy die richtige Wahl sein. Authentizität und Offenheit sind entscheidend. Es ist wichtig, die eigenen Bedürfnisse klar zu kommunizieren und gleichzeitig die eigenen Stärken und den Mehrwert zu betonen, den man dem Unternehmen bieten kann. Erklären Sie, wie Ihre einzigartige Perspektive und Arbeitsweise zu innovativen Lösungen führen kann.
Wichtig ist, dass das Unternehmen auch zu den eigenen Vorstellungen passt. Daher sollten die Werte und die Kultur des Unternehmens genau geprüft werden. Welche Werte vertritt das Unternehmen? Wie ist die Kultur und wird Diversität wirklich gelebt oder betreibt das Unternehmen nur Pinkwashing? Ausschlaggebend ist auch – wie bereits angesprochen – schon die Information zum Bewerbungsprozess, die das Unternehmen häufig auf seiner Webseite beschreibt oder zu dem es auch auf direkte Nachfrage Stellung beziehen kann. Sind hier “alte Strukturen” erkennbar, lassen sich daraus Schlüsse auf die Realität im Arbeitsalltag ziehen. Am wichtigsten finde ich es aber, Studierende zu motivieren, sich auf die Stelle zu bewerben, auch wenn Unsicherheiten bestehen oder die Anforderungen nicht zu 100 Prozent erfüllt sind. Jede Person bringt tolle Perspektiven mit, die ein Mehrwert für jedes Unternehmen sein können.
Tipp für Unternehmen: strukturierter Bewerbungsprozess
Wie sieht Ihrer Meinung nach der optimale Bewerbungsprozess für bspw. neurodivergente Menschen aus?
Den einen optimalen Bewerbungsprozess gibt es nicht, denn die Bedürfnisse und Wünsche der Bewerbenden sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Ein idealer Bewerbungsprozess für neurodivergente Menschen sollte jedoch strukturiert, transparent und flexibel sein, um die individuellen Stärken und Bedürfnisse dieser Bewerbenden zu berücksichtigen. Basierend auf dem Structured Hiring Guide von Greenhouse könnte ein solcher Prozess wie folgt aussehen:
Kickoff-Meeting: Beginnen Sie mit einem Kickoff-Meeting, bei dem die Anforderungen der Rolle, die gewünschten Fähigkeiten und Eigenschaften sowie die Verantwortlichkeiten des Teams klar definiert werden. Dies schafft eine gemeinsame Grundlage und setzt klare Erwartungen.
Erstellung einer Scorecard: Entwickeln Sie eine Scorecard, die spezifische Attribute erfolgreicher Kandidat:innen umfasst. Diese sollte Kategorien wie Problemlösungsfähigkeiten, Kreativität und analytisches Denken enthalten, die besonders relevant für neurodivergente Bewerbende sein können.
Anpassung der Interviewfragen: Basierend auf der Scorecard sollten maßgeschneiderte Interviewfragen entwickelt werden, die gezielt auf die definierten Attribute abzielen. Dies hilft, die Interviews strukturiert und fokussiert zu halten und ermöglicht den Bewerbenden, ihre Stärken durch konkrete Beispiele aus ihrer Erfahrung zu zeigen.
Flexibles Interview-Scheduling: Nutzen Sie Tools wie Greenhouse, um Interviews effizient zu planen und zu koordinieren. Berücksichtigen Sie dabei auch Pausen und spezielle Anforderungen der neurodivergenten Bewerbenden, um den Prozess so reibungslos wie möglich zu gestalten.
Klare Erwartungen für Scorecard-Submission: Setzen Sie klare Deadlines für die Einreichung der Scorecards, um Verzögerungen zu vermeiden und eine konsistente Bewertung sicherzustellen. Automatische Erinnerungen und Schulungen können das Team hierbei unterstützen.
Roundup-Meeting: Nach Abschluss der Interviews sollte ein Roundup-Meeting stattfinden, um die gesammelten Daten zu besprechen und eine fundierte Einstellungsentscheidung zu treffen. Hierbei ist es wichtig, objektive Kriterien und konkrete Beispiele in den Vordergrund zu stellen, um Bias zu minimieren und eine faire Bewertung zu gewährleisten.
Offene Kommunikation und Flexibilität: Während des gesamten Prozesses ist es entscheidend, offene Kommunikation und Flexibilität zu fördern. Bewerbende sollten die Möglichkeit haben, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren, und der Prozess sollte entsprechend angepasst werden. Dies könnte alternative Kommunikationsmethoden oder Testformate umfassen.
Die Einführung eines strukturierten Einstellungsansatzes wirkt sich sowohl positiv auf die Ergebnisse innerhalb des Unternehmens – wie beispielsweise Konsistenz bei allen Vorstellungsgesprächen, geringere Voreingenommenheit und weniger Zeitaufwand für die Organisation – als auch auf den Bewerber oder die Bewerberin aus. Denn ein strukturierter Prozess führt insgesamt zu einem besseren Gesprächsergebnis.
Nach der Einstellung ist vor dem Onboarding und vor dem Alltag – wie gestaltet man Teams so, dass man bspw. auch als neurodivergente:r Kolleg:in arbeitstechnisch gut aufgehoben ist?
Die Integration von neuen Mitarbeitenden in die Arbeitsabläufe des Unternehmens ist die letzte Phase des Einstellungsprozesses. Sie prägt die Atmosphäre und ist die entscheidende Voraussetzung für den Einstellungserfolg. Es ist wichtig, ein unterstützendes und inklusives Arbeitsumfeld zu schaffen, damit sich alle, einschließlich neurodivergenten Kolleginnen und Kollegen, arbeitstechnisch gut aufgehoben fühlen. Ein effektives Onboarding mit klar strukturierten Einarbeitungsplänen und eine durchdachte Teamgestaltung spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Neue Mitarbeitende sollten ermutigt werden, ihre Bedürfnisse und Präferenzen hinsichtlich Arbeitsweise und Kommunikation zu äußern. Für den weiteren Arbeitsalltag haben ERGs (employee resource groups) eine wichtige Funktion. ERGs sind freiwillige, von Mitarbeitenden geführte Gruppen, die sich für Vielfalt und Integration in Organisationen einsetzen. In Bezug auf neurodiverse Organisationen sind sie von großem Wert, wenn es darum geht, das Bewusstsein zu schärfen und Stigmata abzubauen. Durch Workshops, Seminare und Schulungen tragen ERGs zur Entmystifizierung der Neurodiversität bei, indem sie sowohl die einzigartigen Stärken als auch die Herausforderungen neurodiverser Menschen hervorheben. Es sollte also im Eigeninteresses jedes Unternehmens liegen, diverse Teams aufzubauen – und gemäß dem aktuellen “Neuroinclusion at Work report 2024” gelten etwa 20 Prozent der Menschen als neurodivers. Aufklärung ist der Schlüssel zur Förderung eines integrativen und verständnisvollen Arbeitsplatzes.
Über unsere Interviewpartnerin
Sarah Harnett ist Senior Director bei Greenhouse. Mit einem Master in HRM verfügt Sarah über mehr als 15 Jahre Erfahrung im Personalwesen und arbeitet mit Führungskräften und Teams zusammen, um strategische Geschäftsergebnisse für Unternehmen in den Bereichen Einzelhandel, Schifffahrt, Öl und Technologie zu erzielen. Sarah Harnett hat ihren Sitz in Dublin und ist bei Greenhouse weltweit tätig.
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