Der Handel ist eine hochdynamische Branche, werbeintensiv und schnelllebig – und für die älteren Generationen nicht zuletzt wegen der Digitalisierung zunehmend unübersichtlich. Das Projekt „Mein Laden 55 plus“ hat sich nun zum Ziel gesetzt, auch die umsatzstarken, älteren Zielgruppen wieder stärker in den Handelsalltag einzubinden. Dr. Veiel von der FernUniversität Hagen, einer der Initiatoren des Projekts, im Interview.
Herr Veiel, Sie haben das Projekt „Mein Laden 55 plus“ ins Leben gerufen. Worum geht es dabei genau?
Am Lehrgebiet Kooperative Systeme der FernUniversität in Hagen entwickeln wir im Projekt „Mein Laden 55 plus“ eine neuartige Einkaufsunterstützung mit und für Seniorinnen und Senioren. Dabei greifen wir auf die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Kooperative Assistenzsysteme für Seniorinnen und Senioren mit Mobilitätseinschränkung“ zurück, in der Forschende aus der Informatik, Geragogik und Sozialpsychologie zusammenarbeiten.
Durch situierte Informations- und Kommunikationstechnologie sollen trotz Mobilitätseinschränkungen spontane Begegnungen ermöglicht und das Einkaufserlebnis auch dann zu einem sozialen Erlebnis werden, wenn die einkaufenden Seniorinnen und Senioren nicht physisch im Laden anwesend sein können. In dem von „Mein Laden 55 plus“ unterstützten Interaktionsraum können Kontakte zu anderen Menschen (etwa Bekannten, Verkaufspersonal, anderen Shoppern) aufgebaut und gepflegt werden. Die Mitglieder unserer Fokusgruppen bestätigen, dass Emotionen hierbei eine große Rolle spielen.
Die Teilnehmer nutzen zu Hause die App „Mein Laden 55 plus“ auf einem gängigen Tablet mit Internetanbindung. Beim Start des gemeinsamen Einkaufs verbindet unsere App die Beteiligten mit einer Person im Laden. Während des Einkaufs können bis zu zwei der Einkaufenden mit einer oder mehreren Personen im Laden interagieren. Die Einkaufsassistentin oder der Einkaufsassistent schiebt dabei den Einkaufswagen durch den Laden, legt Waren in den Einkaufswagen, reagiert auf Fragen der von zu Hause zugeschalteten Seniorinnen und Senioren sowie auf spontane Wünsche. Weitere Menschen, die sich physisch im Laden befinden, können spontan mit den Nutzern in Kontakt treten.
„Mein Laden 55 plus“ ermöglicht einkaufenden Senioren eine reichhaltige Interaktion im Einkaufsladen: Die Einkaufsassistentin oder der Einkaufsassistent im Laden, die/der eine Familienangehörige/r, Bekannte/r, ehrenamtlich Helfende/r oder Ladenmitarbeitende/r sein kann, verfügt während des Einkaufs über einen technisch ausgerüsteten Einkaufswagen, der vom Laden zur Verfügung gestellt wird. Der Einkaufswagen wird von der einkaufenden Person bedient. Die App unterstützt außerdem die Reservierung eines Einkaufstermins, den Aufenthalt in der Lounge sowie die Kommunikation und Kooperation der Seniorinnen und Senioren beim Einkauf. Die Lounge ist ein virtueller Wartebereich, in dem die Seniorinnen und Senioren eine Gelegenheit und einen Anlass haben, miteinander zu interagieren.
Was hat Sie dazu bewogen, das Projekt zu starten?
Es gab viele Impulse aus unterschiedlichen Quellen, die schließlich dazu führten, aus den unterschiedlichen Impulsen und Ideen ein Projekt zu machen. Ich bin selbst in einem Dorf aufgewachsen und kenne noch persönlich den so genannten „Laden um die Ecke“, an den ich viele positive Erinnerungen habe. Er war nicht nur eine Einkaufsmöglichkeit, sondern auch ein Treffpunkt und der Ort des sozialen Austauschs! Leider verschwindet diese Möglichkeit immer öfter. Die Verlagerungen an den Ortsrand oder die Zentralisierung der Einkaufsmöglichkeiten in die nächst größeren Orte schreitet weiter voran, was uns auch in den vielen Gesprächen im Rahmen unseres Projekts „Mein Dorf 55 plus – Trotz Alter bleibe ich!“ von betroffenen Seniorinnen und Senioren aus dem Rhein-Lahn-Kreis berichtet wird. Das führt einerseits dazu, dass eine gewisse Art an Mobilität vorhanden sein muss, um Orte des sozialen Austauschs überhaupt erreichen zu können. Andererseits werden spontane Begegnungen und der damit verbundene soziale Austausch erschwert. Wird die Mobilität dann eingeschränkt, beispielsweise durch gesundheitliche Einschränkungen oder durch schlechte Anbindung an den ÖPNV, so sind die Betroffenen auf die Hilfe anderer angewiesen und können Dinge des täglichen Bedarfs nicht mehr selbst- und eigenständig erledigen. Das schränkt sie sehr stark ein, erzeugt negative Emotionen und erhöht die Gefahr, dass die soziale An- und Einbindung verloren geht. Vereinsamung droht! Dem wollen wir mit unserem Projekt entgegenwirken.
Wie findet die Kommunikation zwischen der Person zuhause und der Person im Geschäft statt? Gibt es ein integriertes Kommunikationstool und wie funktioniert es?
Alle Beteiligten befinden sich in einer Art Videokonferenz, sodass sie sich gegenseitig sehen, sprechen und wahrnehmen können. Die Seniorinnen und Senioren zu Hause nutzen dabei die Kamera und das Mikrophon des Tablets oder Laptops. Die Einkaufsassistentin oder der Einkaufsassistent im Laden wird über ein Bluetooth-Headset und ein Tablet am Einkaufswagen eingebunden. Zusätzlich können von den Nutzern unterschiedliche Kamerasichten ausgewählt werden, um sich möglichst frei orientieren und umschauen zu können. Über die zur Verfügung stehende Audioverbindung können sich die Seniorinnen und Senioren sowohl untereinander als auch mit der Einkaufsassistentin/dem Einkaufsassistenten unterhalten. Wir arbeiten derzeit an Möglichkeiten, die Kommunikation zwischen den Seniorinnen und Senioren zu Hause und anderen Personen im Laden zu gestatten.
Wie läuft der Warenfluss ab? Übernimmt ein Mitarbeiter den Einkauf und liefert die Waren danach zuhause beim Kunden ab?
Nach dem Einkauf kann entweder die bereits vorhandene Lieferlogistik des Ladens oder gegebenenfalls externe Dienstleister eingebunden werden, die die eigentliche Auslieferung übernehmen. Diesbezüglich sind wir noch auf der Suche nach geeigneten Möglichkeiten, die auch die an den Einkauf anschließende soziale Interaktion mit den Seniorinnen und Senioren zu Hause ermöglicht. Wir denken hierbei unter anderem an Freundinnen und Freunde, Bekannte, Nachbarinnen und Nachbarn oder ehrenamtlich Tätige, die neben der eigentlichen Auslieferung auch noch Zeit für eine Unterhaltung haben, sodass der Einkauf auch einen schönen Abschluss findet.
Das Projekt ist ein Gegenmodell zu klassischen Onlineshop-Einkäufen, wie Rewe sie beispielsweise anbietet. Was ist der Vorteil von „Mein Laden 55 plus“?
Der größte Vorteil ist, dass bis zu zwei örtlich getrennte Seniorinnen und Senioren über die App gemeinsam einkaufen gehen und sich dabei austauschen können. Die soziale Interaktion untereinander, aber auch mit den Personen im Laden, soll zu einem Einkaufserlebnis führen, das einem realen Einkauf sehr nahekommt. Hierdurch wollen wir die soziale Teilhabe von älteren Generationen mit eingeschränkter Mobilität verbessern und den lokalen Zusammenhalt stärken.
Wie realistisch ist es, dass das Projekt die Marktreife erlangt?
Wir arbeiten derzeit an unterschiedlichen Stellen, um eine Marktreife zu ermöglichen. Einerseits binden wir Seniorinnen und Senioren bei der Entwicklung und Verfeinerung unserer Konzepte aktiv ein. Damit stellen wir sicher, dass die technischen Möglichkeiten und Nutzungspotenziale den Erwartungen der Nutzenden entsprechen. Andererseits sind wir im Kontakt sowohl mit Ladenbetreibern als auch mit kirchlichen oder kommunalen Organisationen, um die noch notwendigen Schritte zur Erlangung der Marktreife aus deren Perspektive zu definieren und außerdem eine Verstetigung unseres Ansatzes zu erreichen.
Aktuell suchen wir einen ersten Ladenbetreiber in unserer Nähe, mit dem wir zusammen Erfahrungen in der praktischen Umsetzung sammeln und die Weiterentwicklung vorantreiben können. Die Lieferlogistik muss dann in enger Abstimmung mit dem Partner und den lokal vorhandenen Möglichkeiten analysiert und ein entsprechendes Konzept ausgearbeitet werden. Hinzu kommt die Entwicklung eines Schulungskonzepts für den Einsatz und den Umgang mit der App. Gelingt der praktische Nachweis der Anwendbarkeit und des Nutzens unserer Idee rückt eine Finanzierung und Realisierung eines marktreifen Produkts in greifbare Nähe.
Es heißt oft, digitale Technik überfordere ältere Menschen. Wie war ihr Eindruck bei den Tests von „Mein Laden 55 plus“?
Unsere Erfahrungen lassen diesen pauschalen Schluss nicht zu. Wir nutzen derzeit drei Fokusgruppen mit Seniorinnen und Senioren, denen wir soziotechnische Lösungen vorstellen und darüber mit ihnen diskutieren. Wir binden alle beteiligten Personen aktiv in die Entwicklung mit ein, um möglichst frühzeitig schon bedarfsgerecht und zielgerichtet entsprechende Lösungen in der und über die App anbieten zu können. Unser partizipatives Vorgehen weckt einerseits die Neugierde der Nutzer und andererseits auch ein wenig Stolz bei den Mitgliedern der beteiligten Fokusgruppen, aktiv an der Entwicklung der App mitwirken zu können. Wir haben festgestellt, dass vieles über eine entsprechende Erklärung und Veranschaulichung verdeutlicht werden kann und dadurch auch die zugehörigen Kompetenzen der beteiligten Personen gestärkt werden können. Es hängt also – ähnlich wie auch in anderen Bereichen des Lebens – von entsprechenden Erklärungen ab. Unsere Erfahrung zeigt, dass Rückfragen immer kommen, wenn etwas nicht so ohne weiteres verstanden wird. Umso wichtiger ist neben der zielgruppengerechten Gestaltung auch das Einführungs- und Schulungskonzept für den Einsatz und den Umgang mit der App.
Welche Bedeutung werden sprachgesteuerte Lösungen Ihrer Meinung nach für Projekte wie Ihre bekommen?
Eine sehr hohe! Wir haben einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen. Dadurch, dass unsere Nutzer in einer Art Videokonferenz mit Einkaufsassistenten verbunden sind, sollte deren Interaktion während des Einkaufs untereinander primär über die Sprache und zum Teil noch Gestik erfolgen. Die seniorengerechte Interaktion mit der App ist primär für die Anbahnung und Vorbereitung des Einkaufs nötig. Wir hoffen, dass dadurch die seniorengerechte Nutzung der App einfacher möglich ist und auch die Koordination während des Einkaufs erleichtert wird. Eine Sprachsteuerung der App haben wir derzeit noch nicht vorgesehen.
Bei all unseren Überlegungen spielt der Datenschutz eine enorm wichtige Rolle, weshalb wir bei der automatischen Sprachverarbeitung eher zurückhaltend sind, da diese üblicherweise auf einen außereuropäischen Dienst angewiesen ist. Wir würden uns sehr darüber freuen, wenn die Technologie soweit voranschreitet, dass die Sprachanalyse und -verarbeitung lokal auf einem Gerät ohne aktive Internetverbindung und ohne großes Training erfolgen kann und wir die Daten unserer Nutzenden besser schützen können.
Wie schätzen Sie die Zukunft rund um das Themengebiet Ihres Projekts ein?
Der demografische Wandel wird uns in den kommenden Jahren in unterschiedlichen Bereichen des Lebens beschäftigen und ein enormes Potenzial eröffnen. Entsprechende Unterstützungen oder digitale Hilfsmittel werden entweder bereits entwickelt – denken Sie beispielsweise an Pflegeroboter oder Ähnliches – oder es wird zumindest darüber nachgedacht. Der Markt scheint vorhanden und sehr differenziert zu sein, sodass sich unter Umständen auch komplett neue Marktsegmente ergeben können, in die neue Unternehmen und junge Nachwuchskräfte vorstoßen und sich positionieren können.
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