Dass die Gesellschaft von Technologie abhängig ist, ist nicht zu leugnen. Damit einher gehen Herausforderungen und ethische Fragen, denn kaum ein gesellschaftliches Thema ist zukünftig ohne KI & Co denkbar. Es lohnt sich, mit diesen Gedanken einige Momente zu verbringen – daher sprachen wir mit Verena Lütschg, Autorin von „Übermorgen – der Zukunftskompass“.
Frau Lütschg – Technologien, die die Gesellschaft betreffen, wirken sich entsprechend intensiv auf das alltägliche Leben aus. Muss Technologie sozial werden oder wir unsere technischen Veranlagungen ausbauen?
Beides. Unsere technischen Veranlagungen müssen wir ausbauen, um neue Technologien zumindest in Grundzügen zu verstehen und uns in die Diskussion einbringen zu können, wie wir Technologien gestalten und mit ihnen umgehen wollen. Technologien sind von sich aus weder „gut“ noch „böse“, noch sind sie neutral, wie es schon Melvin Kranzberg im letzten Jahrhundert beschrieb. Es hängt davon ab, wie wir sie nutzen. Eine gesellschaftliche Debatte ist daher wichtig und dazu müssen wir die Vor- und Nachteile sowie die Risiken und Chancen von Technologien einordnen können. Dann können wir uns überlegen, in welchem Kontext wir sie einsetzen wollen und welche Werte wie etwa Nachhaltigkeit, Transparenz oder gleichberechtigten Zugang sie transportieren sollen. Daraus ergeben sich ethische Anforderungen an die Produktentwicklung, die in einer Reihe mit technischen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen stehen sollten. Der Prozess dahinter nennt sich ethisches oder wertebasiertes Design und findet erfreulicherweise immer mehr Aufmerksamkeit.
Der Einstieg in Ihr Buch erscheint denkbar negativ: Die Welt wird in ein neues Zeitalter gestoßen, aber ist nicht darauf vorbereitet. Haben wir noch eine Chance?
Selbstverständlich. Aber wir sollten langsam mal mit der Vorbereitung anfangen, denn ewig bleibt das Fenster nicht offen. Man sollte beispielsweise bedenken, dass es von der Entdeckung der Genschere CRISPR/Cas bis zu ihrem Einsatz bei Embryonen weniger als acht Jahre dauerte. Da wird einem klar, wie schnell es manchmal gehen kann, dass neue Technologien mit weitreichenden Folgen in der Praxis angewendet werden.
Mobilität: Kein großer Umbruch in den nächsten 10 Jahren
Bezüglich der Mobilität ist das Urteil, dass das von einer Person benutzte Auto maximal ineffizient ist. Doch urbane Lösungen wie E-Roller als Zuleitung zum ÖPNV bestehen bereits jetzt. Was wird aus Ihrer Sicht der große Wandel in den nächsten fünf bis zehn Jahren sein?
Zunächst einmal muss das von einer Person benutzte Auto nicht unbedingt ineffizient sein, sofern autonome Autos Realität werden und sich auf der Straße durchsetzen. Es ist denkbar, dass sich dann viele Menschen gerade in der Stadt gegen ein eigenes Auto entscheiden und stattdessen autonome Taxis nutzen, die deutlich billiger wären. Ein Auto könnte so mehrere Menschen bedienen und eine signifikant bessere Auslastung haben, als eines, das etwa 90 Prozent der Zeit rumsteht. Doch das wird meines Erachtens nicht in den nächsten zehn Jahren passieren.
Überhaupt erwarte ich keinen wirklichen Umbruch in der Mobilität in den nächsten fünf bis zehn Jahren, aus mehreren Gründen: Nicht nur neue Vehikel, seien es Taxidrohnen, wasserstoffbetriebene Flugzeuge oder der Hyperloop, müssen marktreif entwickelt werden, sondern auch die dazu passende Infrastruktur. Beides muss notorisch langwierige Prüfungs- und Genehmigungsverfahren durchlaufen und erfordert eine intensive Zusammenarbeit vieler Akteure. Das jahrelange Gezerre um elektrische Ladestationen in Deutschland zeigt, wie mühsam das ist. Überhaupt haben wir die Frage des Treibstoffs bei weitem noch nicht gelöst, denn wir haben weder annähernd genug grüne Energie für die breitflächige Elektrifizierung der Mobilität oder die Herstellung von grünem Wasserstoff. Genauso fehlt uns die effiziente Produktion synthetischer Kraftstoffe. Man darf auch nicht vergessen, dass die Investition in neue Vehikel meist sehr kostspielig ist, sowohl für viele Privatleut als auch für Unternehmen. Zu Letzteren gehören auch öffentliche Verkehrsbetriebe oder die Luftfahrt – eine ganze Flotte an Fahrzeugen oder Fliegern wird nicht eben mal in fünf Jahren ausgetauscht. Selbst, wenn in wenigen Jahren top entwickelte Produkte in den Markt kommen, werden sie daher nicht sofort flächendeckend zum Einsatz kommen. Nicht zuletzt braucht es die Akzeptanz der Nutzer:innen, damit sich neue Mobilitätsformen durchsetzen können, das wird häufig unterschätzt.
Ich glaube daher, dass der Wandel graduell erfolgt und im Kleinen beginnt: mehr Fahrräder, auch elektrische, in der Stadt, weniger Pendelei durch eine höhere Akzeptanz von Homeoffice auch nach der Pandemie.
Bedenkt man Konzepte wie Vehicle to Grid, wandelt sich die Mobilität von einem abgekapselten Transportthema zu einem, das viel mehr Anknüpfungspunkte mit der und damit Bedeutung für die Gesellschaft hat.
Richtig, man muss Mobilität zunehmend im Kontext von Stadt- und Bauplanung, der Gestaltung der Arbeitswelt und auch von Konsum und Gesundheitsmanagement denken. Ein Auto wird mittelfristig Teil des Internet of Medical Things sein, das unsere Konzentration oder unseren Puls misst und in unsere digitale Gesundheitsakte einspeist. Diese Vernetzung von Lebensbereichen verstärkt sich auch im Hinblick auf andere Produkte und Technologien. Unsere Wohnungen zum Beispiel werden nicht mehr nur dazu da sein, uns ein Dach über dem Kopf zu geben und möglichst noch gemütlich zu sein. Stattdessen werden sie für viele Menschen Teil ihrer Arbeitswelt sein, wie auch das Auto Gesundheitsdaten sammeln, ein Baustein der Energiegewinnung und des Netzes sein und über smarte Geräte einen Teil unseres Konsums steuern.
Herausforderungen der Gesundheits-IT
Der Fachkräftemangel in der Pflege ist nicht erst seit Corona Fakt. Technologie könnte beispielsweise in Form von Robotern Unterstützung liefern. Was ist hier, Ihrer Meinung nach, die größte Herausforderung?
Einerseits die technischen Herausforderungen, denn bisher können Roboter nur sehr begrenzt eigenständig Pflegeaufgaben übernehmen. Andererseits die Akzeptanz seitens der Patient:innen, denn ein wichtiger Teil der Versorgung ist eben die menschliche Nähe und Wärme. Ein Kuschelroboter wie die Robbe Paro kann zwar bei Vereinsamung helfen, einen Menschen aber nicht ersetzen. Den großen Mehrwert, den Technologie in der Pflege bieten kann, sehe ich daher zunächst darin, dass intelligente digitale Lösungen im Hintergrund lästige bürokratische Aufgaben wie die Aktenführung übernehmen und damit den Pflegenden mehr Zeit für ihre Patient:innen selbst ermöglichen können. Smarte medizinische Geräte können außerdem zeitaufwändige Prozesse etwa im Patientenmonitoring oder in repetitiven Behandlungen wie der Dialyse übernehmen und die Pflegenden ebenfalls entlasten. Doch auch hier braucht es noch weitere technische Entwicklung, damit etwa die Geräte reibungslos zusammenarbeiten und kommunizieren und die Daten standardisiert werden, damit sie vergleichbar und über mehrere Akteure im Gesundheitswesen nutzbar sind.
Auch die Ernährung ist eines der wichtigsten Zukunftsthemen. Die Zeit, in der man sich vom Bauern um die Ecke die Rüben holte, die ganz klassisch angebaut wurden, sind immer mehr passé. Das muss nichts Negatives bedeuten, denn der Anbau kann ja naturfreundlicher und dennoch wirtschaftlich ertragreicher aufgestellt werden. Trotzdem bekommt man den Eindruck, sich vom Ursprünglichen immer weiter zu lösen – trennt uns Technik ab vom Leben, wie es sein sollte?
In Sachen Ernährung muss das nicht unbedingt sein, denn durch Urban Farming oder neue digitale Dienste, die Bauern aus der Region direkt mit den Konsumenten in der Stadt vernetzen, wird die Produktion von Lebensmittel teils ja auch wieder erlebbarer, wenn man denn daran teilhaben will. Aber das generelle Risiko, dass gerade die Digitalisierung uns von der Natur abkoppelt, sehe ich durchaus, und erste Studien deuten auch in diese Richtung. Doch am Ende kommt es eben wieder darauf an, wie wir die Technologie nutzen und einsetzen. Wir können uns in künstlichen Welten verlieren oder wir können fantastische Apps und Mixed Reality nutzen, um unseren Kindern spielerisch mehr über die Natur und unseren Umgang mit ihr beizubringen; wir können uns Lebensmittel anonym an die Tür liefern lassen oder wir können die Stadtfarm um die Ecke besuchen oder selbst wieder mehr Gemüse auf kleinem Raum ziehen.
Nachhaltigkeit als Teil des Jobs?
Unsere Leser:innen entstammen dem MINT-Bereich. Wenn diese nun eine möglichst zukunftsorientierte Arbeit starten möchten, aber auch Nachhaltigkeit und Sinnstiftung als wichtige Kriterien verfolgen – welche Unternehmen oder Branchen würden Sie empfehlen?
Das lässt sich pauschal nicht sagen – bei ganzen Branchen ohnehin nicht, denn in jeder gibt es schwarze Schafe, gerade beim Trendthema Nachhaltigkeit. Auch bei einzelnen Unternehmen ist es schwierig, eine allgemeine Empfehlung auszusprechen, denn es hängt stark von persönlichen Präferenzen ab. Will ich in einem Start-up-Umfeld arbeiten oder lieber in einem Konzern? Ist mir die Sinnstiftung wichtiger, als persönliche Vorteile wie etwa ein besseres Gehalt? Das muss erst einmal jede:r für sich beantworten. Wenn man sich dann für ein paar Unternehmen interessiert, rate ich sehr, etwas Zeit zu investieren und genau hinzuschauen. Gibt es eine hohe Fluktuation unter den Mitarbeitenden, was auf Unzufriedenheit hindeutet? Was sagen (frühere) Mitarbeiter über die Firma? Wie stellt sich die Firma nach außen dar, etwa in Interviews oder Zeitungsartikeln, und welche ihrer Versprechen setzt sie tatsächlich um? Stellt sie Nachhaltigkeit nur als Aushängeschild ins Fenster oder lebt sie es in unterschiedlichen Bereichen? Ecosia beispielsweise ist eine Suchmaschine, die ihre Gewinne für den Klimaschutz einsetzt. Hauptsächlich, um Bäume zu pflanzen. Ecosias Fokus auf Nachhaltigkeit zeigt sich aber auch darin, dass der Gründer Christian Kroll die Firma vor ein paar Jahren in eine gemeinnützige Stiftung übertragen hat, um sicherzustellen, dass sie nicht an Investoren verkauft und ihr Zweck verfremdet werden kann – Nachhaltigkeit auf einer weiteren Ebene also.
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