In der oft von Männern dominierten Tech-Welt kämpfen Frauen wie Güncem Campagna unermüdlich dafür, Hindernisse zu überwinden und Chancen zu schaffen. Als Vorsitzende des Women in Tech e.V. setzt sie sich leidenschaftlich für die Förderung von Frauen im MINT-Bereich ein. In diesem Interview spricht sie über ihre eigene Karriere, die Hürden für Frauen in der Tech-Branche und wie ihr Verein aktiv Veränderungen herbeiführt.
Wie bist du in den Tech-Bereich gekommen?
Meine Eltern sind beide Lehrkräfte und haben in der Türkei Deutsch studiert. Als wir 1981 nach Deutschland zogen, halfen sie anderen mit ihren Sprachkenntnissen. Schon damals erkannte ich, dass privilegierte Menschen etwas zurückgeben sollten. Ich glaube, das war der Beginn für mich: Ich habe mich schon in jungen Jahren als Tutorin für Geflüchtete engagiert und Nachhilfe gegeben. Mein Schulwerdegang war zu der Zeit ohnehin ungewöhnlich für ein migrantisches Kind. Ich war damals die erste und einzige Migrantin auf einem Gymnasium unserer Stadt.
Nach meinem VWL-Studium und einer erfolgreichen Marketing-Karriere stieg ich vor etwa zehn Jahren aus. Ich bemerkte, dass die Trägheit in großen Unternehmen Prozesse verlangsamte, was meinem Drang danach, Dinge zu verändern, widersprach. Während meiner Jobsuche erkannte ich die fortschreitende Digitalisierung im Marketingbereich. Ich konnte in meinem alten Job nicht mehr arbeiten, weil die Stellenanzeigen digitale Skills forderten, die ich nicht hatte. Also habe ich mich selbst weitergebildet. Das führte mich zu Netzwerkevents und in die Start-up Szene. Dort sah ich nur junge weiße Männer. Also dachte ich mir – „das muss sich ändern!“ Aus diesem Gedanken entstand damals die erste Codingschule mit Kursen für Mädchen. Jetzt sind wir die tech&teach gGmbH und vermitteln digitale Kompetenzen und Future Skills entlang der gesamten Bildungskette – von der Grundschule an bis hin zu Quereinstieg in die IT. Wir nehmen alle mit und versuchen das Thema Bildungs- und Chancengleichheit mitzuberücksichtigen.
Was sind die größten Hürden für Frauen in der Tech-Branche?
Die größte Hürde ist das System. Das gesamte Wirtschaftssystem ist patriarchisch strukturiert. Wenn man in die Vorstände und die Chefetagen schaut, sind dort in der Regel weiße, hetero, cis-Männer. Daran sind oft unsichtbare Hürden schuld, wie die gläserne Decke oder familienunfreundliche Arbeitszeiten – das sind Strukturen, die über Jahrzehnte entstanden sind. Dort etwas zu verändern ist also schwer. Man muss immer wieder in die Konflikte gehen. Das ist nicht immer angenehm, aber nötig.
Ich habe vor rund acht Jahren damit angefangen, darauf hinzuweisen, seitdem haben wir etwas bewegt. Viele Veranstaltende trauen sich nicht mehr reine male-Panels zu haben und gehen oft direkt auf uns zu und Fragen nach Speakerinnen. Es sind wirklich die gewachsenen, patriarchischen Strukturen, die unser Fortkommen verlangsamen, aber wir sind nicht aufzuhalten.
Dazu sind wir auf unterschiedlichen Ebenen aktiv. Zum einen vernetzen wir Frauen, die in Tech-Berufen arbeiten, oder arbeiten möchten, machen Informationsarbeit und vernetzen die Frauen untereinander mit lokalen oder online Events. Seit einem Jahr sind wir auch Partner der ITCS-Karrieremesse. Dort klären wir über unseren Verein auf und beraten gerade junge Frauen, die am Anfang ihrer Karriere in der IT stehen und versuchen die Sichtbarkeit von Frauen in Tech zu erhöhen. Zum anderen haben wir unsere Firmen- und Fördermitglieder, also Unternehmen, die in diesem Bereich aktiv sind und gerne mehr Frauen für sich gewinnen möchten. Da machen wir Beratungsarbeit, geben Tipps, vernetzen sie mit unseren Frauen oder posten auch bei uns intern Jobangebote.
Was muss sich an unserem Schulsystem ändern, damit Frauen weniger Hemmungen vor einer MINT-Karriere haben?
Sehr viel. Ressourcen müssen aufgestockt werden, wir haben einen Lehrkräftemangel und es scheitert schon daran, dass viele wichtige Fächer gar nicht angeboten werden können. Auch an der technischen Infrastruktur mangelt es. Darüber hinaus könnte man den MINT-Unterricht so gestalten, dass auch Mädchen interessierter daran sind. Mädchen und Jungs gehen unterschiedlich an Themen heran, deshalb müssen die Inhalte im Unterricht so angepasst werden, dass sich alle angesprochen fühlen. Wichtig ist auch, dass Lehrerinnen in den MINT-Bereich gehen. Wir müssen auch im Unterricht mehr über weibliche Role Models sprechen und in den Büchern und Unterrichtsmaterialien sollten auch mal junge Frauen die Themen erklären und zeigen, was man mit diesen Skills im späteren Leben konkret machen kann.
„Mädchen und Jungs gehen unterschiedlich an Themen heran, deshalb müssen die Inhalte im Unterricht so angepasst werden, dass sich alle angesprochen fühlen.“
– Güncem Campagna
Hast du selbst ein Role Model?
Ich war schon als Kind begeistert von vielen verschiedenen Frauen, die in sogenannten Männerdomänen Karriere gemacht haben. Zum Beispiel Carly Fiorina: Sie war damals Chefin von Hewlett-Packard und hat sich schon in der 80ern in einem riesengroßen Tech-Unternehmen in den USA durchgekämpft. Auch heute habe ich nicht nur ein Role Model. Jede Frau geht ihren Weg und es ist faszinierend, wie Frauen sich in unserer patriarchischen Welt durchsetzen müssen. Ich bewundere zum Beispiel Annalena Baerbock und wie sie in dieser krisengeprägten Zeit auch feministische Außenpolitik macht. Sie wird natürlich oft belächelt, aber lässt sich nicht beirren. Das sind Vorbilder für mich, die wirklich versuchen, die Welt gerechter und gleicher zu machen und sich auch gegen Widerstände durchsetzen.
Wer ist in der Verantwortung, diesen Wandel umzusetzen?
Die Verantwortung dazu liegt zuerst einmal beim Staat. Sowohl beim Schulsystem, aber auch in der Gesellschaft und der Politik. Die Verantwortung trägt aber auch jeder einzelne Mensch – besonders Eltern. Man muss Kindern schon zuhause vorleben, dass die Themen Digitalisierung und Technologie weltverändernde Themen sind und bei jeder Person auf die Agenda gehören, ganz unabhängig vom Geschlecht. Sowohl bei tech & teach als auch bei Women in Tech e.V. haben uns selbst die Aufgabe gegeben, diese Lücke zu füllen, weil wir gesehen haben, dass es ein großes (politisches) Versagen gibt. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch darum bemühen, dass wir bezahlt werden – das stört mich, weil wir hier ein so wichtiges und vom Staatswesen vernachlässigtes Thema behandeln müssen.
Worauf bist du besonders stolz?
Women in Tech e.V., an dessen Aufbau ich damals beteiligt war, hat mittlerweile 500 Mitglieder. Das ist schon ein Meilenstein. Besonders wichtig sind mir auch vor allem die Girls Coding Clubs von tech & teach. Wenn ich sehe, dass die Mädchen Skills erworben haben und sich anschließend für das Ingenieurstudium interessieren, macht mich das sehr glücklich. Auch bei den Erwachsenen kommen oft Frauen, die sich vorher kaum etwas zugetraut haben, oder diejenigen, die mit tollen Skills aus dem Ausland hergekommen sind, aber hier in Deutschland keine Orientierung hatten. Durch unser Angebot haben sie sich Skills und ein Netzwerk aufgebaut und wissen, wo sie sich bewerben können. Wir können also wirklich Biografien zum Besseren verändern und das macht mich sehr stolz.
Glücklich macht mich der Zuschlag für den Betrieb des TUMO-Zentrums in Köln, das wir in Kooperation mit der KfW Bankengruppe aufbauen. Wir haben mit Null Euro in der Tasche angefangen und bauen jetzt große Bildungszentren auf, das ist natürlich auch etwas, worauf ich stolz bin.
Welchen Rat würdest du jungen Frauen geben, die noch etwas zögern, in die IT oder andere technische Bereiche einzusteigen?
Sucht euch ein Netzwerk! Falls es keine firmeninternen Netzwerke gibt, dann kommt zum Women in Tech e.V. Wir nehmen alle mit, von jung bis alt ist alles dabei. Wir bieten Förderungen und Vergünstigungen, Freitickets zu Veranstaltungen und exklusive Jobangebote.
Und zu guter Letzt: Einfach machen – auch die Männer kochen nur mit Wasser. Technologie ist die Branche schlechthin und bietet super Verdienstmöglichkeiten, sichere Jobs, Entfaltungsmöglichkeiten und kreative Jobs. Lasst euch nicht unterkriegen oder abschrecken. Das gilt für jeden Traum oder Wunsch den man hat – einfach machen!
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