Absolventen der Finanzmathematik haben in der Regel kein Problem, eine Stelle zu finden – aber sollten sich nicht zu sehr auf althergebrachte Images von Branchen verlassen, denn die Einsatzmöglichkeiten von Mathematikern weiten sich immer stärker aus. Findet zumindest Prof. Jan Kallsen von der Universität zu Kiel, der im Interview außerdem über die wachsende Bedeutung der IT im Risikomanagement spricht.
Prof. Kallsen, was macht für Sie persönlich den Reiz am „Oberthema“ Finanzmathematik aus?
Seit Urzeiten dienen Anwendungen als Quelle der Weiterentwicklung der Mathematik. Als besonders fruchtbar hat sich die Physik erwiesen, deren Fragestellungen schon seit langem zu unglaublich vielfältiger, tiefer und schöner Mathematik geführt haben. Demgegenüber ist die Finanzmathematik trotz der gewaltigen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte noch vergleichsweise jung. Daher scheint es mir auf diesem Gebiet leichter, kreative Beiträge zu liefern, die sowohl aus mathematischer Sicht als auch aus Anwendungsperspektive von Interesse sind. Zudem freue ich mich darüber, dass unsere Absolvent*innen auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragt werden, sodass wir in dieser Hinsicht unserer gesellschaftlichen Verpflichtung nachkommen können.
Welche beruflichen Perspektiven sehen Sie für Ihre Absolventen?
Viele unserer Absolventen entscheiden sich naturgemäß für Banken, Versicherungen, Beratungsunternehmen und andere Finanzdienstleister, aber als Mathematiker*innen sind sie darauf nicht festgelegt. Trotz wiederkehrender Finanzkrisen und Hiobsbotschaften über den Stellenabbau im Bankensektor übersteigt die Nachfrage nach Absolventen unser Angebot deutlich. Viele Studierende erhalten noch vor ihrem Examen attraktive Stellenangebote – ich führe das auf die wachsende Bedeutung des Risikomanagements zurück.
Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach Arbeitgeber für Finanzmathematiker voneinander? Braucht es überall eine Promotion?
Um die Jahrtausendwende standen Banken im Ruf, im Vergleich etwa zu Versicherungen die aufregenderen, mathematischen anspruchsvolleren und besser bezahlten Perspektiven zu bieten. Im Zuge von Finanzkrisen auf der einen Seite und gestiegenen Ansprüchen im Versicherungssektor andererseits gilt das wohl nicht mehr. Stellen in finanzmathematischen Beratungsunternehmen sind fachlich und finanziell attraktiv, aber oft mit Reisetätigkeit verbunden. Eine Promotion kann bisweilen sinnvoll sein, ist aber anders als etwa bei Chemikern bei weitem kein Muss. Ich würde sie nur empfehlen, wenn man unabhängig vom potentiellen Nutzen ein genuin wissenschaftliches Interesse mitbringt.
An welchen Fragestellungen arbeiten Sie an Ihrem Lehrstuhl gerade besonders intensiv?
Es ist allgemein akzeptiert, dass man sein Anlageportfolio breit streuen sollte, wenn man an der langfristigen Rendite interessiert ist. Umstritten ist aber beispielsweise, ob man dieses Portfolio wie einen Index gemäß dem Marktanteil der Unternehmen zusammensetzen oder stattdessen kleinere Firmen stärker gewichten sollte. Diese Frage ist anhand von Daten nur schwer zu entscheiden, da der langfristige Trend von starken stochastischen Schwankungen überlagert wird. Hier versuchen wir, mit einem neuartigen statistischen Modell einen Beitrag zur Diskussion zu liefern.
In einem weiteren Projekt untersuchen wir die wahrscheinlichkeitstheoretischen und statistischen Eigenschaften sogenannter polynomieller Prozesse. Diese zunächst rein mathematische Fragestellung ist wegen der Bedeutung dieser Prozessklasse in der Praxis auch von der Anwendungsseite her von Belang.
In Ihren letzten Publikationen geht es vor allem um kleine Transaktionskosten und Lévy-Modelle. Sind das rein betriebswirtschaftliche Betrachtungen oder wäre hier auch IT-Know how nützlich?
In diesen Arbeiten geht es um eine angemessene Modellierung von bislang vernachlässigten Aspekten wie Kurssprüngen oder Transaktionskosten, und zwar möglichst so, dass über Risiken, Preise oder Portfolios weiterhin Aussagen gemacht werden können. Die Kunst besteht darin, durch elegante mathematische Methoden kostenintensive numerische Rechnungen zu vermeiden. Am Ende geht es aber nicht ohne IT, denn für einfache Formeln verhält sich die Realität in der Regel zu komplex.
Wenn Sie ganz frei wählen könnten – welchem Thema würden Sie sich am Liebsten widmen und wieso?
Ich würde wegen der Dringlichkeit untersuchen, ob und gegebenenfalls wie die Menschheit dem ökologischen Kollaps noch entkommen kann. Der Schlüssel dazu liegt aber meiner Ansicht nach nicht mehr im MINT-, sondern im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich. Davon abgesehen gehören für mich drei Zutaten zu einer idealen Fragestellung: Zunächst einmal sollte man sie aus Anwendungs- oder rein wissenschaftlicher Sicht für relevant halten. Ihre Lösung sollte nicht allzu offensichtlich, aber auch nicht aussichtslos erscheinen; dazwischen liegt oft nur ein schmaler Grat. Drittens führt die Beantwortung der Frage idealerweise zu einem tieferen Verständnis oder zu Methoden, die man auch an anderer Stelle anwenden kann. Leider weiß man vorher nie, ob man ein solches Problem vor sich hat; deshalb hilft nur eine gewisse Offen- und Gelassenheit.
Welche sind die großen Herausforderungen, denen sich die Finanzmathematiker in den kommenden Jahren zu stellen haben?
Vielleicht liegen die größten Herausforderungen im stetigen Wandel. Einerseits braucht man solide mathematische Kenntnisse für die immer komplexer werdenden Modelle und Methoden. Andererseits reicht das nicht: Finanzkrisen zeigen, dass man ein Gespür für das große Ganze braucht, um die Grenzen der Modelle und die versteckten Risiken einschätzen zu können. Und schließlich spielen die aktuellen Entwicklungen in der IT eine immer größere Rolle. Man wird also immer offen für Neues bleiben müssen.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung, Stichwort Kryptowährung, und wie bereitet man sich als Studierender auf deren Auswirkungen am besten vor?
Von unseren Absolvent*innen wird eine gewisse Gewandtheit in der IT genauso erwartet wie brauchbare Englischkenntnisse. Darauf sollte man sich einstellen, etwa durch Nutzung entsprechender Angebote im Studium. Andererseits halte ich es für aussichtslos, im Studium alles zu lernen, was man im Beruf braucht. Es spricht in Hinblick auf Persönlichkeitsbildung und zukünftige Herausforderungen manches dafür, sich einmal mit einer Sache gründlich zu befassen, statt mit vielem oberflächlich.